Jugendamt wertet Leipziger Polizeikessel aus: Minderjährige waren ohne Begleitung festgesetzt

Im Leipziger Polizeikessel zum „Tag X“ am 3. Juni wurden unter anderem etwa 60 bis 80 Minderjährige über Stunden festgesetzt. Nun ist deshalb das Jugendamt in der Spur. Klar ist bisher: Die bei Inhaftierung vorgeschriebene Begleitung durch Mitarbeiter des Amtes kam nicht zum Einsatz.

Die Debatte um die Einkesselung von etwa 1000 Menschen am 3. Juni auf einer Grünfläche im Leipziger Süden reißt nicht ab. Nun ist auch das Jugendamt an der Auswertung beteiligt. Laut Jugendschutzgesetzen müssen bei Haftverfahren gegen Minderjährige zwingend Mitarbeiter der Jugendbehörden als Begleitung anwesend sein. Laut LVZ-Informationen war dies während der elfstündigen Festsetzung von 1000 Menschen – darunter 60 bis 80 Minderjährige – nicht der Fall.

Wie eine Sprecherin der Stadtverwaltung erklärte, werte das Amt für Jugend und Familie „die Ereignisse gemeinsam mit der Polizei und Justiz intensiv aus“. Zu Ergebnissen wollte sich die Behörde nicht äußern, da die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen sei. Allerdings stellte das Jugendamt bereits klar: „Im Zusammenhang mit den Geschehnissen auf dem Alexis-Schumann-Platz am 3. Juni (,Tag X‘) wurde unser Bereitschaftsdienst nicht kontaktiert.“

Jugendamt: Müssen bei Polizeimaßnahmen informiert werden

Diese auch „Haftbereitschaftsdienst“ genannte Abteilung gehöre zur Jugendhilfe im Strafverfahren (JuhiS) und müsse bei Maßnahmen von Polizei und Justiz gegen Minderjährige „zeitnah informiert werden und im Ermittlungsverfahren aktiv mitwirken“. Entsprechende Vorgaben seien im Jugendgerichtsgesetz (Paragraf 72a) festgeschrieben. Durch die Begleitung sollen das Wohl der Minderjährigen im Verfahren sichergestellt, ihre Rechte bei Befragungen und Untersuchungen gewahrt, gegebenenfalls Alternativen zur Untersuchungshaft organisiert werden.

In diesem Zusammenhang weist das Jugendamt auch auf eine seit Januar 2000 geltende Änderung im Gesetz hin. Seither „wurde die aktive Mitwirkung der JuhiS auf die Teilnahme an polizeilichen Untersuchungsbehandlungen/Vernehmungen erweitert, sollten keine Erziehungsberechtigten verfügbar sein oder deren Teilnahme untersagt worden sein“.

Die Leipziger Polizei sieht indes kein Fehlverhalten bei sich, begründet die Nichtkontaktierung der Jugendhilfe während der elfstündigen Einkesselung damit, dass keine Haftbefehle gegen Minderjährige beantragt wurden. „Gemäß Paragraf 72a muss die Jugendgerichtshilfe über die Vollstreckung eines Haftbefehls unterrichtet werden“, hieß es knapp auf LVZ-Nachfrage. Weitere Erklärungen gab es nicht.

Strafrechtler: Bei Befragung hätten Eltern dabei sein müssen

Professor Ralf Kölbel, Strafrechtler und Jugendrechtexperte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, kann den Sachverhalt aus der Ferne nicht eindeutig klären. Es gebe tatsächlich die Pflicht, die Jugendgerichtshilfe bei vorläufigen Festnahmen so zeitig wie möglich einzuschalten, wenn zu erwarten ist, dass die Jugendlichen einem Richter vorgeführt werden. „Wenn die Polizei nun behauptet, sie habe die Personen lediglich zur Identitätsfeststellung festgehalten und es sei abzusehen gewesen, dass diese abgeschlossen ist, bevor es zur richterlichen Vorführung kommen kann, dann ist die Situation zwar insgesamt sicher problematisch – aber nicht wegen Paragraf 72a“, so Kölbel.

Das Problem könnte aber aufgrund anderer Kriterien bestehen. „Hier stellt sich nämlich die Frage, was die Polizei mit den Minderjährigen tatsächlich gemacht hat. Wurde nur die Identität erhoben? Oder wurde beispielsweise auch eine Befragung oder erkennungsdienstliche Behandlung durchgeführt? Dann hätten auf jeden Fall Eltern dabei sein müssen“, erklärt der Münchner Strafrechtler.

Darüber hinaus lässt den Juraprofessor die Dauer der Einkesselung aufhorchen: „Wieso dauert, auch wenn es 1000 Menschen in der Maßnahme waren, die Identitätsfeststellung elf Stunden? Und wieso muss die Gesamtgruppe über die Gesamtdauer festgehalten werden, wenn doch die Identitätsfeststellung Schritt für Schritt möglich ist? Da geht es nicht nur um Minderjährige, sondern es erscheint als generelles Problem.“ Im Übrigen wären Zwangsmaßnahmen zur Identitätsfeststellung ohnehin nur bei bestehendem Tatverdacht möglich: „Personen, die strafunmündig sind und sich nicht strafbar machen können, scheiden von vornherein aus. Die Festhaltung von erkennbar unter 14-jährigen Personen ist daher generell unzulässig.“

Eltern erstatten Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung

Die in Gewahrsam genommenen Personen wollten am 3. Juni an einer genehmigten Versammlung auf dem Alexis-Schumann-Platz teilnehmen – die dann aufgrund von Verstößen gegen Auflagen vor Ort verboten wurde. Nach einem gewaltsamen Angriff von etwa 150 Vermummten auf die Polizei wurden etwa 1000 Personen, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Grünanlage samt Spielplatz auf dem Heinrich-Schütz-Platz befanden, eingekesselt. Wie die Polizei später mitteilte, waren die Beamten später selbst von der Menge der festgesetzten Personen überrascht.

Bereits während der elf Stunden andauernden Maßnahmen hatten sich Eltern am Platz eingefunden und warteten dort auch in der Nacht – um Kontakt mit ihren Kindern aufnehmen zu können. Inzwischen gibt es zahlreiche Berichte von Betroffenen, die der Polizei vorwerfen, im Kessel unter sehr prekären Umständen festgehalten worden zu sein. Unter anderem heißt es, man habe über Stunden auf engstem Raum zusammenstehen müssen, konnte Notdurft lange Zeit nur im Gebüsch erledigen, wo andere Personen standen und habe lange Zeit keinen Zugang zu Wasser und Essen sowie ausreichend Kleidung erhalten, um sich gegen die nächtliche Kälte schützen zu können.

Nach LVZ-Informationen haben inzwischen auch mehrere Eltern der eingekesselten Kinder und Jugendlichen beim Jugendamt Anzeige gegen die Polizei erstattet. Der Vorwurf gegen die Beamtinnen und Beamten lautet: Gefährdung des Kindeswohls.

LVZ